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Bröckeln

 

Meine Lehre begann nach den Betriebsferien. Viele Kunden, viele zu reparierende, viele neue Brillen – die Kollegen hatten jede Menge zu tun. Ich saß mit zwei weiteren Lehrlingen am Katzentisch, jemand hatte mir eine Bröckelzange in die Hand gedrückt, mir gezeigt, wie ich mit elegant-energischen Griffen das Glas auf die benötigte Größe reduzieren könnte. In der Zeit, als es noch keine CNC-Schleifautomaten gab, war das Bröckeln eine unvermeidliche Vorarbeit für das Schleifen: Vom Brillenglasrohling werden mittels einer Zange Bröckckchen für Bröckckchen abgekniffen, eben gebröckelt, bis die ungefähre Form des Brillenglases erreicht ist. Das geht schneller als mit dem Schleifstein und schont dessen Material.

 

Damit nicht zu viele teure Brillengläser dabei draufgingen, musste sich „der Stift“ Fensterglasabfall beim Glaser holen. Nachdem ich in drei Wochen gefühlt das Fenstermaterial eines Einfamilienhauses zu Glassplittern verarbeitet hatte, wurde mir langweilig, so dass ich begann, mir diverse Formen auszudenken. Als der Chef mich entdeckte, war ich gerade dabei, eine Sonnenblume zu komplettieren. Ich hatte Lob und mehrere Fleißkärtchen erwartet, stattdessen wurden meine künstlerischen Ambitionen mit einem Anpfiff sondergleichen zertrümmert. Meine Entschuldigung, dass ich doch nur getan habe, was die Gesellen mir am ersten Tag befohlen, gezeigt und mich dann offenbar vergessen hatten, wurde nicht angenommen. Ich war am Boden zerstört.

 

Elf Jahre später war eine der Meisterprüfungsaufgaben, eine Brille von Hand zu verglasen. An sich keine Herausforderung, aber beim Überprüfen des fertigen Teils merkte ich, dass ich in der Eile das rechte Glas falsch eingearbeitet hatte. Ich bekam zwar gegen Punktabzug ein Ersatzglas ausgehändigt, hatte aber nur noch fünf Minuten Zeit. Das würde nie klappen! Fünf Minuten! Während meines lautlosen Lamentos hatte ich aber schon die Bröckelzange in der Hand, im Rubbendidupp war das Glas randscharf auf Form gebracht, ich schliff schnell noch den Rand glatt und eine Facette, setzte das Glas ein, fertig. Zeit für eine Endkontrolle war nicht mehr. Abgabe.

Als ich den Meisterbrief überreicht bekam, wusste ich, dass die drei Wochen Bröckellangeweile nicht vergeblich waren und verstand wieder ein Stückchen mehr meinen rheinischen Vater, der gern sagte, wenn etwas misslang: „M’r weiß nie, woför et jut is.“

 

PS: Gern hätte ich bei YOUTUBE ein Video zum Bröckeln gefunden, das gab es leider nicht, aber ich habe dazu einen feinen Praktikumsbericht einer Schülerin auf der Seite eines Optikbetriebs gefunden, den ich als Lehrerin mit höchster Punktzahl für Anschaulichkeit bewertet hätte.

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Markus (Donnerstag, 01 August 2019 10:53)

    3 Jahre Lehrzeit, davon 2½ Jahre in der Werkstatt. 2 Jahre bröckeln und Kundenaufträge mit der Hand einschleifen. Nach 1 jahr durfte ich dann auch mal den Diamantschleiftstein benutzen, vorher nur Korund. Gekittet, gelötet, genietet, Kaffee kochen, Laden putzen und mit der Chefin einkaufen gehen. Das war so grob meine Lehrzeit. Heute bin ich glücklich darüber das sie so war, denn handwerklich kann mir so Schnell keiner was vormachen.

  • #2

    MM (Donnerstag, 01 August 2019 15:15)

    Wurde die Sonnenblume nur verbal oder in echt zertrümmert? LG

  • #3

    Barbara (Donnerstag, 01 August 2019 18:50)

    Die Sonnenblumeneinzelteile wurden schnell in der sogenannten Bröckelschublade (also im Müll) entsorgt.